Neues zum Hanau-Attentat: Der Vater und die Angehörigen

Neues zum Hanau-Attentat: Der Vater und die Angehörigen


Nach einem kurzen Psychiatrie-Aufenthalt lebte der Vater des Attentäters von Hanau seit etwa fünf Monaten – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – bereits wieder seinem Haus in Hanau-Kesselstadt.

Neues zum Hanau-Attentat: Der Vater und die Angehörigen

von Wolfgang Meins

Als der Spiegel am 15. Dezember titelte: „Vater des Attentäters stellt rassistische Anzeigen – und fordert Tatwaffen zurück“, war es allerdings vorbei mit der relativen Anonymität. Zwar hätten sich beim Vater damals keine Anhaltspunkte für eine Beteiligung an der Tat seines Sohnes Tobias Rathjen ergeben. Aber aus den Akten ergebe sich, dass auch Rathjen senior „rechtsextrem inspirierten Verschwörungstheorien anhängt“. Das überrascht, denn bisher galt der Vater ja lediglich als ein etwas skurriler Einzelgänger.

Auch der Vater hat einen Verfolgungswahn

Das meiste, was der Spiegel an Informationen über den Vater in den Akten fand, geht allerdings weit über bloße Skurrilität hinaus – wenngleich nicht in Richtung Rechtsextremismus, sondern eindeutig in Richtung Verfolgungswahn: „Sein Sohn sei das Opfer einer weltweit agierenden Geheimdienstorganisation gewesen. Agenten hätten seinen Sohn im Wald getötet und seine Leiche im Haus der Familie abgelegt. Währenddessen habe ein als sein Sohn verkleideter Agent die neun Morde begangen.“ Interessant auch der Hinweis, dass bereits die Anzeige wegen „Bespitzelung durch einen unbekannten Geheimdienst“ im Jahr 2004 von Vater und – dem schon damals an einer paranoiden Schizophrenie erkrankten – Sohn gemeinsam erstattet wurde.

Es muss allerdings offenbleiben, ob der Vater „nur“ an einer (reinen) Wahnerkrankung leidet – was ich für wahrscheinlicher halte – oder, wie sein Sohn, an einer schizophrenen Psychose. Diese psychische Störung ist meist wesentlich schwerer, da noch durch weitere psychische Symptome gekennzeichnet. Damit lag in der Familie Rathjen – seit mindestens 2004 – ganz offensichtlich das vor, was in der Psychiatrie früher als Folie à deux, jetzt als induzierte Psychose bezeichnet wird. Die Frage, wer hier der Induzierer war, Vater oder Sohn, muss allerdings offenbleiben.

Diagnose des Attentäters jetzt amtlich

Nur der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die einen Monat nach dem Attentat vom 19. Februar bereits vom Autor und etwas später auch von dem ehemaligen Direktor des Instituts für Forensische Psychiatrie an der Charité, Prof. Kröber, diagnostizierte paranoide Schizophrenie des Tobias R. mittlerweile amtlich ist. Es war wiederum das Hamburger Magazin, das Ende November mit der Nachricht überraschte, ein im Auftrag des Generalbundesanwalts (GBA) erstelltes forensisch-psychiatrisches Gutachten durch Prof. Saß habe „klare Anzeichen für eine paranoide Schizophrenie“ beim Attentäter festgestellt. Hält nun auch der äußerst renommierte Gutachter Prof. Saß – wie der Autor und Prof. Kröber – den Attentäter für schuldunfähig, dass er also wegen seiner schweren paranoiden Schizophrenie unfähig war, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln? Der Spiegel bleibt die Antwort auf diese entscheidende Frage komplett schuldig – was aber natürlich auch eine Antwort ist. Es kommt eben wieder darauf an, auch zwischen den Zeilen lesen zu können.

Die ausbleibende politische oder mediale Reaktion auf das Saß-Gutachten belegt erneut, wie fest das Narrativ einer rassistisch motivierten, keinesfalls krankheitsbedingten Tat in der Öffentlichkeit verankert ist – nicht zuletzt auch bei den Angehörigen und Hinterbliebenen der Opfer. Dieser klaffende Abgrund zwischen Faktischem einerseits und politisch Erwünschtem andererseits erinnert fast an die offizielle Sprachregelung in der DDR zu den Ereignissen des 17. Juni: Es war kein Volksaufstand, sondern eine von westlichen Provokateuren angezettelte Konterrevolution. Aber so ganz scheint der GBA dem Frieden immer noch nicht zu trauen. Jedenfalls wollte die Bundesanwaltschaft dem Hanauer Anzeiger auf Anfrage keine Gutachten-Einsicht gewähren.

Der Paranoiker agiert meist im Verborgenen

Für die Hanauer Bevölkerung im Allgemeinen und die Angehörigen und Hinterbliebenen der Attentatsopfer im Besonderen hat die jetzt auf den Vater gerichtete mediale Aufmerksamkeit durchaus ambivalente Auswirkungen. Noch bis vor kurzem schien für die Hanauer – abgesehen von den unmittelbaren Nachbarn und einigen Amtspersonen – der Vater gar nicht mehr existent zu sein. Der fachliche Hintergrund dafür dürfte in der Tatsache zu suchen sein, dass anhaltend Wahnkranke mit Paranoia meist zurückgezogen und im Verborgenen agieren. Sie suchen also nicht das Licht der Öffentlichkeit, sondern arbeiten sich typischerweise an staatlichen Institutionen wie Bürgermeisteramt, Polizei und Staatsanwaltschaft ab, die sie mit Anzeigen und Hinweisen überziehen. Erst durch seine mediale Würdigung ist der Vater überhaupt wieder sichtbar und ein Thema in Hanau geworden. Dass es sich bei ihm zuvorderst um einen chronisch psychisch Kranken handelt, scheint dabei den Beteiligten nicht immer klar zu sein. 

Die Spiegel-Geschichte vom Attentäter-Vater erzählten zahlreiche Medien nach. Teils lebten dabei wieder Verschwörungstheorien in Bezug auf ein möglicherweise hinter dem Attentäter stehendes „rechtsextremes Netzwerk“ auf. Wer in Versuchung gerät, solche jeder Grundlage entbehrenden Parolen unters Volk bringen zu wollen, sollte sich vorher zumindest die wahrscheinliche Wirkung auf die Trauernden vor Augen führen. Deshalb an dieser Stelle noch einmal der psychiatrische Fachhinweis: Im Gegensatz zu Fanatikern – wie etwa Greta Thunberg – bleiben Schizophrene oder andere Wahnkranke isoliert.

Es mag auf den ersten Blick ein wenig nach psychiatrischem Selbstzweck aussehen. Aber ob der Vater nun an einem anhaltenden Wahn oder, wie sein Sohn, an einer Schizophrenie leidet, hat durchaus relevante Auswirkungen auf die Prognose – günstige und ungünstige: Ein reiner, anhaltender Wahn ist in aller Regel komplett therapieresistent. Gleichzeitig bleiben die Betroffenen fast immer in der Lage, autark und unabhängig von fremder Hilfe zu leben. Während an Schizophrenie erkrankte Personen ein drei- bis fünffach erhöhtes Risiko für die Begehung eines schweren Gewaltdeliktes besitzen, ist für Wahnkranke nichts dergleichen bekannt.

Welche Möglichkeiten bleiben?

Aber, so könnten die Opferangehörigen fragen, besteht nicht die Möglichkeit den Vater auf der Grundlage eines entsprechenden Gerichtsbeschlusses in einer geschlossenen Psychiatrie unterzubringen? Wohl kaum, denn dafür wäre eine akut drohende, praktisch unmittelbar bevorstehende Fremdgefährdung die zwingende Voraussetzung. Und auch für das Wegsperren ins Gefängnis fehlen schlicht die dafür nun einmal notwendigen Voraussetzungen. So bitter es vielleicht auch sein mag: Es gibt keine andere Möglichkeit, als sich mit der Existenz des Vaters in Hanau zu arrangieren, ihn also freundlich-neutral und bestimmt zu ignorieren. 

Eine Mahnwache, wie sie jüngst in unmittelbarer Nähe des väterlichen Hauses stattfand, hilft hier nicht weiter – im Gegenteil: Ein Wahnkranker wird dadurch weder abgeschreckt noch zur geistigen Ein- oder gar Umkehr bewegt, sondern fühlt sich schlimmstenfalls in die Enge getrieben und wird dann möglicherweise weniger berechenbar. Bei dieser Mahnwache wurde von einem Redner, dem Bruder eines Attentatsopfers, gefordert: „Er muss raus aus Kesselstadt.“ Heißt das jetzt, psychisch Kranke, die das Pech haben, unter politisch grob unkorrekten Wahnthemen zu leiden, seien zu verbannen oder wegzusperren?

Wenn die Zeit keine Wunden mehr heilt

Bei der psychischen Verarbeitung des Hanauer Attentats scheint für die Hinterbliebenen und Angehörigen die alte Regel „Zeit heilt alle Wunden“ nicht mehr zu gelten. Auch wenn diese Regel die reine Bedeutung der Zeit überbewerten mag, verwundert die folgende Äußerung eines trauernden Bruders doch sehr. Fast ein Jahr nach dem Attentat sagte er auf der (digitalen) Podiumsrunde „SayTheirNames“ mit „Fachleuten auf den Feldern von Antirassismus, Medien und Erinnerungskultur“ (Faz+) in die Kamera: „Uns allen geht es nach einem Jahr wesentlich schlechter“ und, fast noch verstörender: Man kämpfe immer noch um Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen.

Hier zeigt sich exemplarisch der Preis, den Hinterbliebene und Angehörige für die politische Instrumentalisierung des Hanau-Attentats zahlen müssen. Je aktiver ihre Beteiligung daran ausfällt, desto stärker nehmen sie sich die Chance, „normal“ trauern zu können. Dass es dabei für den einen oder anderen durchaus verlockend sein mag, aus der Anonymität seines bisherigen Lebens ins Licht der Öffentlichkeit treten zu können, sei dahingestellt. Tragisch ist aber auf jeden Fall, dass sie bloß einer ideologischen Fiktion folgen und sich damit auch um die Möglichkeit bringen, einen tatsächlichen Beitrag zur Prävention ähnlicher Taten von psychisch Kranken anzustoßen: etwa die „gesetzlichen Voraussetzungen“ zu ändern, die den GBA nach dessen Antwort daran gehindert hätten, bereits nach Erhalt des ersten Täter-Manifests im November 2019 den Sozialpsychiatrischen Dienst von Hanau zu informieren. Der dann möglicherweise eine Zwangsunterbringung in der Psychiatrie oder zumindest die Beschlagnahme der Waffen veranlasst hätte. Zumal, wie jüngst wiederum der Spiegel – nicht etwa die eigentlich zuständige Bundesanwaltschaft – meldete, bei dem Attentäter bereits im Januar 2002 ein Amtsarzt eine schizophrene Psychose diagnostiziert und eine Zwangsunterbringung in der Psychiatrie veranlasst habe.

Dieser Kampf endet nie

Stattdessen entsteht bei dem Beobachter der Eindruck, dass sich die Angehörigen und Hinterbliebenen ausnahmslos fest eingereiht haben in den unerbittlichen Kampf gegen Rassismus und Rechtextremismus. Das verschafft ihnen gegenwärtig zwar reichlich Solidaritätsadressen und Anerkennung und damit auch eine gewisse Genugtuung, aber: Dieser Kampf kann nie ein Ende finden, denn irgendwo wird es immer „Rassisten“ geben, die es zu entlarven und bekämpfen gilt. Die zahlreichen mit Abermillionen von Steuergeldern finanzierten Aktivisten werden schon dafür sorgen, dass den sogenannten Demokratie- und Rechtsextremismus-Projekten die Arbeit nicht ausgeht. Da wird die „DEXT-Beratungsstelle“ in Hanau, die für dieses und nächstes Jahr mal eben eine halbe Million Euro an Fördergeldern erhalten hat, keine Ausnahme sein.

In Frankfurt gibt es unter der Friedensbrücke bereits ein 27 Meter breites Gedenk-Graffito mit dem sinnigen Motto: „Rassismus tötet – von Hanau bis Moria“. Auch Hanau plant, ein eigenes Mahnmal zu errichten. Derzeit laufen die Vorbereitungen dazu auf Hochtouren. Denn es gilt, ab April aus den 117 weltweit eingereichten Entwürfen den Sieger auszuwählen.

Zweifellos werden auch Vertreter der Hinterbliebenen und Angehörigen beteiligt sein an der Auswahl des Entwurfs, ebenso wie an den Planungen für die Gedenkfeier am 19. Februar. Dort wird selbstverständlich auch Bundespräsident Steinmeier eine seiner hölzern-pathetischen Reden halten, was die Hinterbliebenen und Angehörigen durchaus als Ehre empfinden mögen. Aber all das erhöht auch die Gefahr für sie, mehr und mehr zu politisch instrumentalisierten Berufstrauernden zu werden, die ihrem Leben nur schwer noch einen anderen Sinn werden geben können. 

erschienen auf Achgut


Autor: Achgut
Bild Quelle: Von Lumpeseggl - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=88826832


Sonntag, 07 Februar 2021

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